Rede  zum 1.August 2019 in Schwerzenbach

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Kennen Sie Pippi Langstrumpf? Das selbstbewusste Mädchen mit den roten Zöpfen – vorlaut, um keine Antwort verlegen, unabhängig. Pippi Langstrumpf wohnt wie sie will; macht das, was sie will; missachtet alle Regeln unserer anständigen Gesellschaft und bringt damit Behörden und Nachbarn zur Verzweiflung. Sie löst aber auch Bewunderung aus, weil sie sich nicht dreinreden lässt und zuerst das macht, wozu sie gerade Lust hat. Unangenehmes oder Pflichten übersieht sie einfach. So singt sie denn auch:

Ich mach' mir die Welt (Widdewidde), wie sie mir gefällt.

Offenbar trifft sie den Herzenswunschwunsch vieler Kinder und sicher auch vieler Erwachsener: Nur auf das reagieren, was mir gefällt, und nur das akzeptieren, was ich meine, gehöre in mein Leben. Im richtigen Leben geht das nicht. Es ist nicht alles Schöne bedingungslos vorhanden, und neben sich selbst gibt es ja auch noch andere Menschen mit ihren Ansprüchen. Und Pippi Langstrumpf verunsichert auch, nicht nur die Lehrkräfte und Behörden, auch uns: Ist das streng geregelte Leben, wie wir es uns auferlegen tatsächlich in jedem Fall erstrebenswerter, als sich einmal treiben und überraschen zu lassen durch Zufälle, Chancen, Gelegenheiten?

Was hat das mit der Politik zu tun? Sehr, sehr viel. Wunsch und Wirklichkeit gehen vielfach sehr weit auseinander. Ich bin schon lange in der Politik und habe in meinen 16 Jahren Gemeinde-Exekutive viele Erfahrungen gesammelt; eine ist gewesen, dass wir immer wieder herauszufinden müssen, 1. was sind die Bedingungen unter denen wir handeln, 2. was sind die Möglichkeiten, die sich uns eröffnen, 3. was ist eine zukunftstaugliche Lösung und 4. am allerwichtigsten: Was wird verstanden und auch akzeptiert. Angefangen bei der Tempo 30 Zone, bei der Sanierung des Hallenbades, der Subventionierung der Kinderkrippenplätze, der Gestaltung der Kreisel und beim Bau von Alterswohnungen. Überzeugt der Vorteil, wird er von der Bevölkerung, die entscheidet, auch so verstanden.

Immer ist die Auseinandersetzung zwischen der Wunschvorstellung und der Wirklichkeit wichtig, damit wir tragfähige Lösungen finden, die verstanden und akzeptiert werden.

Und wie traditionell das Hin- und Hergleiten zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist, zeigt sich schon beim Feiern des 728-igsten Jahrestages des Rütlischwurs. Am 1.August wird gern ja auf die Gründungsmythen der Eidgenossenschaft zurückgegriffen.

Und der Wunsch, sich ein schönes Bild zu zeichnen, obsiegt oft schon bei der Interpretation der Gründungsgeschichte. Das könnte uns eigentlich gleich sein, weil schöne Legenden soll man geniessen. Aber sie werden auch heute noch ständig benützt, um ein Wunschbild der Welt von damals auf heute zu übertragen. So romantisch ist die Welt damals nicht gewesen und sie ist es heute schon gar nicht. So wird der Bund, der 1291 auf dem Rütli geschlossen wurde, als Begründung der Unabhängigkeit und der Demokratie dargestellt.

Richtig ist aber, dass die Alte Eidgenossenschaft als loses Bündnis von drei Talschaften am Vierwaldstättersee entstanden ist. Ziel ist nicht eine Loslösung vom Deutschen Reich gewesen, sondern die Verlängerung gewisser alter Vorrechte, die ihnen mehr Selbständigkeit sicherte. Die lokalen Führungsschichten, also die wichtigen Familien, haben damit ihre eigene Vormachtstellung innerhalb der Urkantone gefestigt. Es steht im Bundesbrief explizit, dass jeder weiterhin gemäss seinem Stand seinem Herrn dienen soll. Gleiches gilt für die Ablehnung fremder Richter, die Bundesbrief erwähnt werden. Die historische Forschung belegt, dass damit Statt­halter oder Verweser (Stell­ver­treter) von auswär­tigen Machthabern gemeint waren: Statthalter, die die Rechtsprechung von einheimischen Männern beaufsichtigt haben. Um fremde Richter ging es gar nicht, man wollte nicht, dass über solche Statthalter fremdes Recht den einheimischen Richtern befohlen werden kann.

Genau wie heute, die gleiche Fragestellung bei den Bilateralen Verträgen, beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof oder aktuell beim Rahmenabkommen mit der EU. Auch hier müssen wir Fehlinterpretationen korrigieren und zwischen Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden.

Angesicht der grossen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtung mit der EU brauchen wir geregelte Verhältnisse. Ob im Mietrecht, im Strassenverkehr oder internationale Vereinbarungen: Vertragliche Abmachungen schützen immer den schwächeren der Partner, denn der Stärkere könnte ganz gut auch auf Vereinbarungen verzichten.

Das Rahmenabkommen oder auch institutionelles Abkommen zwischen der EU und der Schweiz wird kontrovers diskutiert. Müssen wir automatisch fremdes Recht übernehmen? Werden staatliche Beihilfen, z.B. die Förderung der Wasserkraft, Staatsgarantien bei Kantonalbanken, Wohnbau- oder Tourismusförderung verboten? Sinkt das Niveau beim Lohnschutz? Vieles kann durch Präzisierungen des Vertragstextes oder durch innenpolitische Regelanpassungen geklärt werden. Damit das Vertragswerk in einer Volksabstimmung durchkommt, sind die Klärungen notwendig. Wir werden aber auch wie immer abwägen müssen, ob mehr zählt, was wir gerne hätten und was für unseren Wohlstand und unsere Autonomie unerlässlich ist.

Sehr umstritten ist Frage der Rechtsübernahme - eben, wie beim Bundesbrief: Wer kontrolliert die Einhaltung der vertraglichen Bestimmungen. Durch das Rahmenabkommen werden nicht fremde Richter urteilen, sie werden auch nicht die Schweizer Richter anweisen, was sie urteilen müssen. Jede Gesetzesänderung im EU-Raum kann von der Schweiz abgelehnt, auch mit Referenden bekämpft werden. Schweizer Gesetze werden durch die Schweizer Bevölkerung beschlossen und die Richter urteilen danach. Nur wenn ein Gesetz dem Abkommen widerspricht und dadurch gravierende Nachtteile für die EU entstehen würden, könnte sie mit verhältnismässigen Massnahmen reagieren. Diese können aber wiederum angefochten und auf die Verhältnismässigkeit überprüft werden.

Der Wunsch aber, dass wir ohne die anderen, die anderen aber nur mit uns leben können, müssen wir fallenlassen und uns der Wirklichkeit stellen.

Gleiches gilt, wenn wir meinen, wir könnten mit etwas mehr Velofahren und konsequentem Glasrecycling den Klimawandel aufhalten. So sehr jeder individuelle Beitrag an eine Ökologisierung der Schweiz und der Welt wertvoll ist und unbedingt unterstützt werden muss, freiwilliges Handeln wird nicht reichen. Wenn das CO 2, das bis heute ausgestossen wurde, noch Jahrhunderte weiterwirkt, wird sich die Erde weitererwärmen mit allen Konsequenzen bezüglich Wetterextreme und Umweltkatastrophen – das auch, wenn wir schon ab morgen kein weiteres CO2 in die Atmosphäre abgeben würden. Zum Glück, und das ist auch Wirklichkeit, sind Rezepte genügend vorhanden, so dass wir unseren Kindern und Enkeln auch eine Erde übergeben könnten, auf der sie eine Zukunft haben. Von Totalersatz fossiler Energieträger über erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Förderung lokaler Produktion bis zu ersten Versuchen CO 2 aus der Atmosphäre zu filtern. Mögliche Lösungen sind vorhanden. Wer ist auch bereit, sie umzusetzen? Die Einsicht ist bei vielen vorhanden, doch wenn liebgewonnene Gewohnheiten teurer werden, fragen sich viele, ob es gerecht ist, wenn die Reichen mit der Überstrapazierung unserer Erde weitermachen können und die tieferen Einkommen die Zeche des Raubbaus bezahlen. Ich bin überzeugt, dass wir eine Akzeptanz nur erreichen, wenn ökologisches Verhalten belohnt wird und umweltschädigendes belasten. Wer eine Ferienreise ohne Flugzeug macht, soll von den Abgaben der Flugreisenden profitieren können. Wer wenig Energie braucht, soll von den Aufpreisen auf Strom, Öl und Gas etwas erhalten. Es braucht keine neue Steuern, sondern ein Bonus-Malus System im Bereich von klimaschädigende Handeln.

Immer wieder höre ich, dass der Anteil der Schweiz am Klimawandel gering ist. Das stimmt ja auch, aber es ist immer auch die einfachste Ausrede, um nichts tun zu müssen. Richtig ist eben auch, dass wir zu den Ländern mit dem höchsten selbstproduzierten und importierten CO 2- Ausstoss pro Person gehören. Dazu tragen wir auch als Land mit hohem Lebensstandard eine besondere Verantwortung.

Nicht nur bei den Umweltfragen sind wir nicht alleine, auch bei der Migration sind wir ein Teil dieser Erde. Wir müssen sogar zur Kenntnis nehmen, dass unser Einfluss grösser ist als wir meinen. Sowohl bei Klimaflüchtlinge wie bei Kriegsvertriebenen können wir die Augen nicht von der eigenen Verantwortung verschliessen. Dass der Bundesrat in dieser Situation beschliesst, Waffenexporte sogar in Bürgerkriegsländer zuzulassen, entspricht weder der schweizerischen Neutralität noch unserer humanitären Tradition. Durch die eingereichte Volksinitiative wird das hoffentlich von den Stimmberechtigten korrigiert – lanciert wurde sie von den Kirchen, Menschenrechts- und Entwicklungshilfeorganisationen.

In unseren Reiseträumen gibt es für uns keine Grenzen mehr. Wir reisen auf der Welt dorthin, wo es uns gerade reizt, hinzugehen. Die Sehenswürdigkeiten der armen Länder sind unsere Sehenswürdigkeiten. Wir bringen ihre Rohstoffe in unseren Besitz. Wir lassen uns bedienen in herausgeputzten Urlaubsressorts. Wir anerkennen für uns keine Grenzen mehr. Die Wirklichkeit erwischt uns dann wieder, wenn sich die Menschen aus diesen Ländern aufmachen und an unserer Grenze stehen, verlangen wir, dass sie unsere Grenze respektieren und fragen, ob sie bei uns bleiben können.

Solange wir nicht mithelfen, ihre Lebensbedingungen vor Ort zu schützen und zu bewahren, werden wir mitansehen müssen, wie sich Menschen aus Verzweiflung aufmachen, grosse Risiken auf sich nehmen und uns mit schrecklichen Bildern von ihren geglückten oder missglückten Flucht in den Medien daran erinnern, dass wir in uns in unserer gemeinsamen Welt befinden und wir in einer Schicksalsgemeinschaft leben.

Ich kehre zurück zum Bundesbrief, denn ein Wunsch darf Wirklichkeit sein und von uns weiterverfolgt werden. Zu Beginn des Briefes steht: «Das öffentliche Ansehen und Wohl erfordert, dass Friedensordnungen dauernd gelten sollen.»

Das öffentliche Wohl war also ebenfalls Anlass für den Bund. Ob es nun nur für die Reichen oder für alle gelten sollte, bleibe dahingestellt. Aber die Einsicht, dass es einem Einzelnen nur gut geht, wenn es auch den anderen gut, hat mit dazu geführt, den Bund zu schliessen.

Dieses Anliegen steht auch in der Präambel der heutigen Bundesverfassung: « dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen«. Und ein starkes Volk sind wir, auch dank unserem stabilen politischen System.

 

In einer Zeit des ungezügelten Individualismus ist der Zusammenhalt von Starken und Schwachen die Lebensversicherung unserer Gemeinschaft. Darum gilt es, unseren Sozialwerken Sorge zu tragen, ob AHV/IV, Pensionskassen, Grundversicherung im Gesundheitswesen, die Arbeitslosenkasse, die Ergänzungsleistungen und die Sozialhilfe. Sie alle sind beschlossen und bestätigt worden durch Volksabstimmungen, und damit wird die solidarische Unterstützung der Gemeinschaft für die finanziell weniger Glücklichen regelmässig bekräftigt.

Es mag ja hin und wieder Personen geben, die das soziale Auffangnetz auszureizen versuchen. Perfekt war es nie und wird es nie sein. Aber schauen sie mal: Bei uns finden sie kaum Bettler, wenig Obdachlose, keine Slums. Reisen Sie mal in irgendeine Stadt dieser Welt: Wo finden Sie eine vergleichbare Situation? So stellt sich einzig die Frage, was uns dies wert ist und ob wir uns weiter für Integration statt für Separation einsetzen und uns das etwas kosten lassen. Dass sich nicht alle Menschen in unsere gesellschaftlichen Zwänge einordnen wollen oder können, hat es in der Schweiz in jeder Epoche gegeben und die Familie, die Gemeinde, die Wirtschaft konnte sie mittragen, ohne sich zu überfordern. Sind wir heute weniger bereit, füreinander zu sorgen?

Wir haben das beste politische System, das noch händelbar ist – und viele beneiden uns darum. Es ist aber eher vor 171 bei der Gründung des Bundesstaates begründet worden als mit dem Rütlischwur. Unsere direkte Demokratie verlangt von uns aber, dass wir mitdenken, mitentscheiden und uns mitverpflichten lassen. Andere Demokratien wählen alle vier, fünf Jahre ihre Vertreterinnen und Vertreter, die dann – wie bei uns auch – immer alles falsch machen. Sie können aber bis zur nächsten Wahl nicht eingreifen. Mit der direkten Demokratie können Parlamentsentscheide sofort korrigiert werden. Und bereits die Drohung mit dem Referendum verhindert viele schlimmere Beschlüsse. So ist in der letzten Session die Erhöhung der Krankenkassenfranchise mit einer blossen Referendumsdrohung verhindert worden. Diese hätte Familien, Betagte und chronisch Kranke besonders hart getroffen.

Nun, mit der direkten Demokratie sind alle Stimmberechtigten mitverantwortlich für den politischen Kurs der Gemeinde, des Kantons und der Schweiz, ob sie das Stimmrecht ausüben oder nicht – und alle müssen sich mit Wunsch und Wirklichkeit des politischen Umfeldes auseinandersetzen, mit den Chancen und Risiken – zum Beispiel bei der Positionierung der Schweiz in Europa und der Welt, bei der Minderung der Klimaschäden, der Aufrechterhaltung der humanitären Tradition der Schweiz und dem Schutz der Schwächeren.

Wir können stolz sein auf unsere direkte Demokratie, und die Jungen haben sie wiederentdeckt, viele engagieren sich wieder mehr, auf der Strasse und im Parlament. Sie stellen ihre Forderungen und wir sollten hinhören und mitdiskutieren. Sie werden mitentscheiden, ob wir tragfähige Lösungen finden für die Zukunft, unser aller Zukunft. Und wenn sich Wunsch und Wirklichkeit mal in die Quere kommen, regt das zum Nachdenken an. Das tut der Demokratie gut.

Und wenn sich unter den Jugendlichen mal eine politische Pippi Langstrumpf findet, die ihre eigenen Regeln und ihre eigenen Methoden anwendet, dann belebt es das politische Leben - und wir, mit 171 Jahren Erfahrung an direkter Demokratie, tragen das gelassen mit.

Ich wünsche Ihnen eine schöne Bundesfeier und eine glückliche Hand beim Ausfüllen Ihrer Stimm- und Wahlzettel.

Schwerzenbach, 1. August 2019 – Thomas Hardegger, Nationalrat SP, Rümlang