Pro und contra Verfassungsgerichtsbarkeit - politik.ch

 

Braucht die Schweiz eine Verfassungsgerichtsbarkeit, um Bundesgesetze auf eine Verfassungswidrigkeit überprüfen zu können? Darüber diskutieren SP-Kantonsrat und Ständeratskandidat Thomas Hardegger sowie Claudio Zanetti, SVP-Kantonsrat und Nationalratskandidat.

Die Grund- und Menschenrechte
müssen unantastbar bleiben

Man spürt die Absicht - und ist verstimmt

Nehmen wir es vorweg: Die Einführung der Verfassungs-gerichtsbarkeit – d.h. die Abschaffung des Art. 190 der Bundesverfassung - hat keine Chance  bei den eidgenössischen Räten. Einzig SP und Grüne stehen uneingeschränkt dafür ein, dass Bundesgesetze vom Bundesgericht überprüft werden könnten, ob sie die Grundrechte, die uns die Verfassung zusichert, auch einhalten. Die FDP laviert und will einen Zusatzbericht des Bundesrates, die CVP schlägt wie so häufig einen halbherzigen Kompromiss vor, in der Hoffnung es allen ein bisschen recht zu machen.

Grundrechte wie Eigentumsgarantie, Wirtschaftsfreiheit, Rechtsgleichheit mit Diskriminierungsverbot, Schutz der Privatsphäre, Vereinigungsfreiheit und viele weitere Rechte dürfen nicht durch die Anwendung von Bundesgesetzen verletzt werden können.


Die SVP ist konsequent,-  dass muss man ihr lassen. Bundesgesetze zu Ausschaffungen ohne Verhältnismässigkeitsprüfung oder für ein Minarettverbot wären nicht mehr möglich. Darum wehrt sie sich auch gegen den Vorrang der Grundrechte vor der Anwendung von Bundesgesetzen, obwohl die Einschränkung von Rechten, die ihr besonders wichtig sind wie Eigentums-garantie und Wirtschaftsfreiheit ja auch betroffen sein könnten. Könnte sich der Wind nicht einmal so drehen, dass es auch die SVP-Sympathisanten trifft? Letztes Jahr hat die ungarische Regierung die Pensionskassengelder ihrer Einwohnerinnen und Einwohner konfisziert. Zwar wären sie bei uns durch die Eigentumsgarantie geschützt, ein entsprechendes Bundesgesetz dazu könnte aber nicht beim Bundesgericht angefochten werden.

Es ist auch widersinnig, dass kantonale Gesetze beim Bundesgericht überprüft werden können, Bundesgesetze aber nicht. Es läge gerade im Interesse der Kantone, dass sie Bundesgesetze, die in die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantone eingreifen, auf deren Verfassungsmässigkeit überprüfen lassen können. Bei der Schulbildung, bei der Raumplanung, bei der Spitalplanung und etwa beim Strassenverkehr oder beim öffentlichen Verkehr.


Verfassungsverträglichkeit bei Volksinitiativen


Neben diesem diskutierten Art. 190 der Bundesverfassung gibt es noch weitere Situationen, bei denen die Überprüfung der Verfassungsverträglichkeit sinnvoll wäre. So werden regelmässig Unterschriften für Initiativen gesammelt für Anliegen, die Grundrechten widersprechen. Wie verschaukelt müssen sich Stimmberechtigte vorkommen, wenn sie eine Initiative unterschreiben und später erfahren, dass die Umsetzung der Initiative gar nicht möglich ist. Auch für die Initianten ist die Situation demotivierend und erst noch kostspielig. Eine materielle Vorprüfung durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit wäre hier sinnvoll und hilfreich.


Es ist mir bewusst: Es ist nicht populär sich dafür auszusprechen, dass die Mehrheit des Volkes nicht zwingend immer recht haben muss. Aber die Grundrechte und die Menschenrechte müssen unantastbar bleiben. Stellen Sie sich vor, die SVP mit einem Stimmenanteil von gut 30 Prozent würde durch die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer verboten, die Auftritte von Parteiexponenten untersagt und die Medien angewiesen, die Berichterstattung über die SVP zu unterlassen. Grundrechte sind nicht nur da, wenn sie einem passen, sie müssen für alle Staatsebenen, für alle politischen Ausrichtungen und in allen politischen Grosswetterlagen gelten.


Die Garantie der Grundrechte sind von der Bevölkerung mit der Annahme der Bundesverfassung am 18.4.1999 beschlossen worden. Eigentlich wäre es logisch, dass man für den Erlass eines verfassungswidrigen Gesetzes zuerst die Bundesverfassung ändern müsste. Einer solchen Abstimmung, die ein Grundrecht aus dem System herausbrechen und demontieren wollte, sähe ich jedoch mit grosser Zuversicht entgegen.  

Thomas Hardegger, Rümlang, ist Gemeindepräsident, SP-Kantonsrat und Ständeratskandidat.

Funktionäre und Regierungsvertreter, die wie Funktionäre denken, reden gerne geschwollen: „Verfassungskonformität“, „völkerrechtliche Menschenrechtsgarantie“, „fehlende justiziable Elemente“, „Subsidiaritäts- und Legalitätsprinzip“ und „umfassende Normenkontrolle“ sind Begriffe, die in ihren Verlautbarungen zu einer möglichen Einführung eines Verfassungsgerichts auftauchen. Dabei geht es bloss um die simple Frage: Wer soll das letzte Wort haben – das Schweizer Volk oder irgendwelche Richter?

In der Schweiz gibt es kein Verfassungsgericht. Nicht, weil es bei der Gründung des Bundesstaats 1848 vergessen ging, sondern, weil das damals, und vor allem in der Totalrevision der Bundesverfassung 1874, bewusst so beschlossen wurde. Unsere Verfassungsväter waren mutige Männer. Sie wählten einen eigenständigen Weg und setzten in unruhigen Zeiten umgeben von Monarchien auf die Demokratie. Freie und mündige Menschen sollten ihr Geschick selbst in die Hand nehmen und sich selbst eine Verfassung geben. Was lag also näher, als sie auch gleich mit der Aufgabe, über die Einhaltung ihrer Verfassung zu wachen, zu betrauen? Gerade wer Grundrechte als unantastbar betrachtet, sollte sich überlegen, ob sie in den Händen der zu schützenden Menschen nicht besser aufgehoben sind, als in denen eines politisch zusammengesetzten Richtergremiums. Das Reichsgericht der Weimarer Republik war jedenfalls nicht in der Lage, die Katastrophe des Dritten Reiches abzuwenden.

Unsere Bundesverfassung weist das Bundesgericht ausdrücklich an, Bundesgesetze auch dann anzuwenden, wenn sie gegen die Verfassung verstossen sollten. Dies ist eine bewusste Stärkung des demokratischen gegenüber dem rechtsstaatlichen Element, denn ein später erlassenes eventuell sogar vom Volk in einer Referendumsabstimmung bestätigtes Gesetz entspricht naturgemäss eher dem Volkswillen. Gleichwohl hat der Gesetzgeber die Verfassung zu beachten. Parlament und Volk haben wiederholt bewiesen, dass sie vom Bundesgericht geäusserte Kritik oder die Feststellung eines allfälligen Konflikts mit Verfassungsrecht ernst nehmen. Doch eben: Der Souverän behält sich das letzte Wort vor. Er will genau nicht, dass am Ende jede umstrittene Frage, von einem Richtergremium entschieden wird, wie es in Deutschland mittlerweile der Fall ist.

Handfeste Gründe


Dass ausgerechnet heute wieder versucht wird, eine Verfassungsgerichtsbarkeit zu installieren, hat handfeste Gründe. Die „classe politique“ musste in den vergangenen Jahren mehrfach die Grenzen ihrer Macht erfahren. Setzte sie sich in der Frage der Einbürgerungen noch durch und machte den Erwerb des schweizerischen Bürgerrechts zu einem simplen Verwaltungsakt, erfuhr sie mit der Annahme der Verwahrungsinitiative, der Minarettverbotsinitiative und der Ausschaffungsinitiative mehrere schmerzhafte Niederlagen. Und wie von schlechten Demokraten nicht anders zu erwarten, machte man sich flugs daran, zum Schutz vor unliebsamen Volksentscheiden die Regel so zu ändern. Ein „Joker-Argument“ in diesem Zusammenhang ist die Berufung auf Völkerrecht.


Mit dieser schwammigen der demokratischen Legitimation weitgehend entzogenen Rechtsmasse soll unsere Demokratie im gewünschten Sinne gelenkt werden. So wird behauptet, das Verbot Minarette zu errichten, stelle eine Verletzung fundamentaler Menschenrechte dar, und die entsprechende Volksinitiative hätte gar nie zur Abstimmung gebracht werden dürfen. Bemerkenswerterweise stellt man sich in unserem westlichen Nachbarland Frankreich, der selbsternannten Erfinderin der Menschenrechte, keinerlei solche Fragen. Ob an Schulen Kopftücher und im öffentlichen Raum das Tragen der Burka verboten wird, ist eine Frage der Politik. Und niemand denkt daran, sie von Richtern entscheiden zu lassen – schon gar nicht von fremden.

Claudio Zanetti, Zollikon, ist Jurist und Mitinhaber von politik.ch, SVP-Kantonsrat und Nationalratskandidat.